Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war die Welt von so vielen Kriegen, Konflikten und Krisen erschüttert wie derzeit. Daher erscheint es angebracht, sich einen kurzen Überblick über die Krisenherde zu verschaffen, um sich bewusst zu werden, was uns im Jahr 2024 erwarten könnte und worauf wir uns bei unseren Planungen einstellen müssen. Die Liste ist leider lang. Viele der Konflikte sind eng miteinander verbunden und widerspiegeln eine äußerst fluktuierende und labile Weltlage.
- Ukraine: Der russische Aggressionskrieg gegen die Ukraine wird für Europa auch 2024 eine zentrale sicherheitspolitische und immer mehr auch wirtschaftliche Herausforderung darstellen. Hier entscheidet sich in vieler Hinsicht die Zukunft des europäischen Kontinents und natürlich auch Russlands. Werden die USA und Europa die Entschlusskraft und die Finanzmittel weiterhin aufbringen, um die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf fortan ausreichend zu unterstützen? Wie ernst ist das Säbelrasseln des Kremls gegenüber Finnland und dem Baltikum, allesamt NATO-Mitgliedstaaten?
- Republik Moldau: Aufgrund der Kriegslage zwischen Russland und der Ukraine ist Moldau bislang von russischen Angriffen verschont geblieben und auf gutem Weg Richtung Europa. Die wirtschaftliche und innenpolitische Lage bleibt allerdings weiterhin ungefestigt, russische Destabilisierungsversuche aufrecht und der Konflikt um die abtrünnige, Moskau-hörige Provinz Transnistrien ungelöst.
- Balkan: 2023 hat eine Zunahme der Spannungen um Nordkosovo zwischen Kosovo und Serbien gebracht, eine Lösung ist derzeit nicht in Sicht. Die innenpolitische Lage in Serbien könnte sich aufgrund der Vorwürfe der Wahlfälschungen bei den jüngsten Wahlen zuspitzen. Die seit dem Dayton-Abkommen geltenden, ohnehin prekären Regelungen für Bosnien-Herzegowina scheinen an Wirkungskraft noch weiter zu verlieren, die irredentistischen Töne aus der Republika Srpska zuzunehmen.
- Israel – Gaza: Der durch den brutalen Überfall der Hamas mit Massaker auf Israel ausgelöste jüngste Waffengang dürfte noch Monate in Anspruch nehmen. Ob es Israel gelingt, sein Ziel, die Hamas auszulöschen, zu erreichen, bevor der Druck der internationalen Gemeinschaft wegen der humanitären Lage in Gaza zu stark wird, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Anzeichen für eine Ausweitung des Konflikts geben Anlass zur Besorgnis: verstärkte Auseinandersetzungen in der Westbank, Übergriffe auf Israel durch Hisbollah aus dem Libanon, der selbst ein Land am Zusammenbruch ist, Angriffe der vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen im Jemen auf die Schifffahrt im Roten Meer gehören ebenso dazu wie die Möglichkeit einer Ausweitung auf Syrien und vor allem einer direkten Auseinandersetzung Israels mit dem Iran. Der Cyberkrieg zwischen Israel und Iran tobt mit Vehemenz. Anzeichen verdeutlichen sich, dass es zu merklicher Abkühlung der Beziehungen USA – Israel um Meinungsverschiedenheiten zur Kriegsführung in Gaza kommen könnte, die die Allianz USA – Israel aber nicht grundsätzlich in Frage stellen dürften.
- Die USA bemühen sich derzeit, eine internationale Koalition zum Schutz der Seerouten gegen die Huthis zusammenzustellen. Sie werden aber selbst wohl aktiver werden müssen und Begegnungen mit dem Feind auf den Schifffahrtswegen mit ihrer ansehnlichen Flotte nicht weiter aus dem Weg gehen können. Die Bekämpfung von billigen Drohnen mit teuren Raketen wird auf Dauer nicht rentabel sein. Der Eskalation sind Tür und Tor geöffnet. Ende Dezember kam es zu einem direkten Beschuss der Huthis durch die amerikanische Flotte mit einem ersten Toten auf Seiten der Huthis.
- Iran bleibt der größte Unruheherd der Region, sowohl innenpolitisch, wirtschaftlich aber vor allem durch die Politik des iranischen Einflussbereichs im Irak, in Syrien, im Libanon, im Jemen sowie durch seine Unterstützung des internationalen Terrors. Es stellt sich die Frage, wie lange die USA die unter Obama begonnene und von Biden grundsätzlich fortgesetzte Politik der Hoffnung, den Iran in die verantwortungsbewusste Staatenwelt zu reintegrieren, aufrechterhalten werden können.
- Die Türkei kämpft mit Boden- und Lufttruppen in Nordsyrien und Nordirak, insbesondere in den kurdischen Gebieten und unterhält weiterhin Basen in Nordwestsyrien. Präsident Erdogan ist jederzeit für außenpolitische Überraschungen gut. Nach der Blockade des schwedischen NATO-Beitritts scheint er diese nun aufgegeben zu haben. Neu sind im immer etwas prekären Verhältnis mit Russland mögliche Spannungen um die türkische Haltung zur Schifffahrt in den Meerengen und die Frage, ob und inwieweit sich die Türkei über den Montreux-Vertrag vom frühen 20. Jahrhundert hinwegsetzen wird. Russland war zuletzt wegen der Genehmigung der Durchfahrt ins Schwarze Meer für ein britisches Kriegsschiff ungehalten. Nicht spannungsfrei sind auch die Beziehungen der Türkei mit dem Iran.
- Südkaukasus: Mit der gegenwärtigen Schwäche der Ordnungsmacht der Region (Russland) wurde der “eingefrorene” Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien erneut zu einem heißen Konflikt. Das bis an die Zähne gerüstete Aserbaidschan (Militärhilfe durch Türkei und Israel, Waffenverkäufe aus Russland) hat 2023 Berg-Karabach zurückerobert und einen Exodus der dortigen armenischen Bevölkerung verursacht. Ob die Auseinandersetzungen damit in ruhigeres Fahrwasser gelangen, muss bezweifelt werden. Ob die Hinwendung Armeniens zu Europa den entsprechenden Schutz bieten wird, bleibt ebenfalls offen. Die von Russland besetzten georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien bleiben weiterhin umstritten. Trotz Bemühungen Georgiens um Annäherung zur EU spielt die georgische Regierung derzeit eine gewisse Schaukelrolle zwischen dem Westen und Russland. Beobachtungen deuten darauf hin, dass Russland in Abchasien, also völkerrechtlich gesehen auf georgischem Territorium, einen neuen Schwarzmeerhafen für militärische Zwecke anlegt.
- Subsahara-Afrika: Der Bürgerkrieg im Sudan tobt unvermindert weiter, die Lage innerhalb Äthiopiens sowie die Auseinandersetzungen des Landes mit Eritrea nehmen an Intensität neuerlich wieder zu. Putschsituationen, wie in Niger und Gabun, zuvor in Mali und Burkina Faso, drohen das zarte Pflänzchen der Demokratie in West- und Zentralafrika zu zerstören. Selbst ECOWAS, die Wirtschaftsgemeinschaft der demokratischen Staaten Westafrikas, steht in Frage. Dies bedeutet auch Rückschläge für die Zusammenarbeit Europas mit dieser Region in sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Besonders betroffen ist das einflussreichste europäische Land in der Region, der ehemalige Kolonialherr Frankreich.
- Die Taliban in Afghanistan, gestärkt durch den überstürzten amerikanischen Abzug, setzen ihre bekannte Rolle des islamischen Fundamentalismus und der Menschenrechtsverletzungen fort. Die Gefahr besteht, dass das Land erneut zu einem Hort des Terrorismus werden könnte.
- China verstärkt – unbeschadet der jüngsten Probleme der chinesischen Wirtschaft (durch die staatliche Wirtschaftspolitik herbeigeführte Immobilienblase, Jugendarbeitslosigkeit, Kapitalflucht wegen der wirtschaftlichen Lage aber auch wegen der rückwärtsgerichteten Politik der zunehmend autoritären Führung) – seine zunehmend aggressive Haltung in der Politik gegenüber dem Westen sowie seine Besitzansprüche im chinesischen Meer, Spannungen mit den Nachbarländern Philippinen, Vietnam, Australien, Japan, insbesondere auch Indien. Die USA, zuletzt aber auch immer deutlicher Europa, haben diese Gefahren erkannt und setzen auf eine Politik der “Deriskierung”, also der Eindämmung der geopolitischen, aber auch negativen wirtschaftlichen Auswirkungen, ohne einen offenen Konflikt mit China zu provozieren. Die Kalibrierung dieser Politik ist denkbar kompliziert und wird auch 2024 eine wichtige Rolle spielen.
- Die akuteste Frage dürfte jedoch sein, ob und wann Xi Jinping den Zeitpunkt für gekommen erachten könnte, die von ihm angekündigte Eroberung der abtrünnigen Provinz Taiwan anzugehen. Welche Lehren er in diesem Zusammenhang aus der Weltlage zieht, weiß nur er selbst. In Taiwan, mit in der Zwischenzeit gefestigter Demokratie und einer Rolle als weltweit bedeutendster High-Tech Chip-Hersteller, stehen Anfang 2024 Wahlen bevor, deren Ausgang Xi möglicherweise nicht gefallen könnte.
- Viele Länder überdenken ihre Sicherheitspolitik, was durchaus dazu führen kann, dass sich dies als Basis weiterer Konflikte herausstellen könnte. So wurden in diesem Zusammenhang in Japan Stimmen laut, die seit Jahrzehnten ungelöste Frage des Besitzes der Kurilen-Inseln mit Russland so oder so zu klären.
- Die nordkoreanische Diktatorenfamilie bemüht sich nach Kräften, in der antidemokratischen Allianz Russland, China, Iran und deren Proxies eine wichtige Rolle zu spielen. Dementsprechend aggressiv wird aufgerüstet, Raketen abgeschossen und Abkommen mit Südkorea zum Abbau der Spannungen aufgekündigt.
- Russland, China und Iran rittern auch darum, ihren Einfluss in Südamerika zu stärken und den des Westens, insbesondere der USA, zu mindern. In Präsident Lula von Brasilien scheinen sie dafür durchaus einen ideologischen Verbündeten gefunden zu haben, von Venezuela und Bolivien ganz zu schweigen. Das gilt auch für Zentralamerika und die Karibik. Neu ist ein wieder aufgebrochener Territorialkonflikt zwischen Venezuela und Guayana, wobei es – was sonst – um venezolanischen Appetit auf Rohstoffe geht.
- Im Jahr 2024 finden weltweit in einer Rekordzahl von Staaten Wahlen statt, darunter auch Präsidentschafts- und Kongresswahlen in den USA, in Indien, nicht zuletzt auch in Österreich. Der Ausgang dieser Wahlen könnte so manche regionale oder weltpolitische Veränderungen bringen. In Anbetracht der Angriffe auf das demokratische System von vielen Seiten kann es aber als erfreulich eingestuft werden, dass in so vielen Ländern – hoffentlich möglichst freie – Wahlen stattfinden.
- Bei all den erwähnten Krisen könnte man leicht übersehen, in das Kalkül auch die exponentiell angestiegene Gefahr von Cyberattacken auf kritische Infrastruktur, aber nicht nur auf diese, zu vergessen, ebenso, dass nach einigen Jahren verhältnismäßiger Ruhe die Terrorgefahr weltweit wieder deutlich angestiegen ist.
- Eine Reihe von Ländern dürften 2024 ihre Grenzen für Immigration dichter machen. Dies gilt für Europa ebenso wie für die USA, wo der Druck gegen Präsident Bidens lockere Einwanderungspolitik immer stärker wird. Andere Länder könnten die Migration als Waffe einsetzen, z.B. Russland (gegenüber Finnland und dem Baltikum), ebenso Belarus, oder auch erneut Präsident Erdogan in der Türkei.
Brandstetter-Group ist sich bewusst, dass die Lektüre dieser Krisenliste, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, für Besorgnis zum Jahreswechsel führen dürfte. Fest steht aber, dass man mit Krisen besser umzugehen in der Lage ist, die man vorhergesehen und auf die man sich rechtzeitig eingestellt hat. Dafür muss aber das Bewusstsein vorhanden sein, wo man eigentlich hinschauen soll und wo dunkle Wolken aufsteigen könnten.
Brandstetter-Group wünscht trotzdem ein möglichst friedliches und erfolgreiches Jahr 2024